Gemeinde und Städte sind herausgefordert, alterspolitische Überlegungen anzustellen, um den Menschen im hohen Alter ein selbstbestimmtes Leben auch in institutionellen Wohnverhältnissen zu ermöglichen. Ein Forschungsprojekt des Instituts Alter der Berner Fachhochschule hat die Rolle stationärer Einrichtungen in vier Städten untersucht. Von Riccardo Pardini, Kathy Haas, Jonathan Benett*
Die Schweiz befndet sich in einem gesellschaftlichen Strukturwandel des Alters. Aufgrund der steigenden Lebenserwartung wird die nachberufiche Lebensphase vielfältiger und unterschiedlicher. Eine Mehrheit lebt in guter Gesundheit und verfügt über eine gute wirtschaftliche Absicherung. Selbstbestimmung und Selbstständigkeit sind daher zu wichtigen Leitvorstellungen der älteren Generationen geworden. Beispielhaft steht dafür das Bedürfnis, möglichst lange zuhause leben zu können. Speziell ältere Menschen im hohen Alter sind aber stärker als andere Altersgruppen dem Risiko zunehmender Fragilität ausgesetzt und bedürfen häufger Unterstützung, um einen selbstbestimmten Alltag zu führen.
Zweifel am Bedeutungsverlust stationärer Strukturen
Wie die Selbstständigkeit und Selbstbestimmung bis ins hohe Alter erhalten werden können und welche Unterstützungsstrukturen dabei helfen, das ist Gegenstand aktueller Debatten kantonaler und kommunaler Alterspolitik. Der Trend geht klar in Richtung einer Reduktion der stationären Versorgungsstrukturen. Pfegeplätze werden abgebaut und ambulante wie auch intermediäre Strukturen priorisiert. Doch das mittelfristige Wachstum der hochaltrigen Bevölkerung, die starke Zunahme der Alters- und Langzeitpfege und der steigende Bedarf an stationären Einrichtungen (siehe die Prognosen von Obsan bis 2040) lassen Zweifel am Bedeutungsverlust stationärer Einrichtungen aufkommen.
Ausrichtung der Alterspolitik unterscheidet sich
Über die zukünftige Rolle stationärer Einrichtungen aus Sicht von Gemeinden und Städten ist in der Schweiz wenig bekannt. Im Zuge eines Forschungsprojekts des Instituts Alter der Berner Fachhochschule wurde dieser Frage nachgegangen und diese anhand der alterspolitischen Strategien der Städte Basel, Luzern, Winterthur und Zürich untersucht. Welche Rolle die stationären Einrichtungen künftig einnehmen werden, ist von den gesetzlichen und den historisch gewachsenen Rahmenbedingungen abhängig. So betreibt zum Beispiel die Stadt Basel keine eigenen Pfegeheime und der Eintritt erfolgt erst nach einer obligatorischen Bedarfsabklärung seitens des Gesundheitsdepartements. Die Pfegeplatzplanung wird laufend aktualisiert und Überkapazitäten vermieden. In der Stadt Winterthur besteht das Angebot aus einem Mix von privaten Einrichtungen und städtischen Alterszentren. Es bestehen keine Eintrittsschwellen, und für die Bewilligung von stationären Einrichtungen ist die Gesundheitsdirektion des Kantons Zürich zuständig. Winterthur hat entsprechend weniger Einfuss auf die Kapazitätsplanung. Obschon sich die Rahmenbedingungen unterscheiden, kommt den stationären Einrichtungen in Basel und Winterthur dieselbe Rolle zu. Sie besteht primär in der Aufnahme von älteren Menschen mit hoher Pfegeintensität. In der Stadt Luzern lässt sich deren Rolle weniger klar abgrenzen. Die stationären Strukturen sind Bestandteil eines integrierten Versorgungsmodells mit ausgeprägter Quartierorientierung. Neben den Haupttätigkeiten der Langzeitpfegeversorgung für ältere Menschen übernehmen die Zentren zusätzlich Aufgaben in Form von Ferienbetten zur Entlastung pfegender Angehöriger oder mit speziellen Angeboten für Menschen am Rand der Gesellschaft. Darüber hinaus wird um die Zentren das Wohnen mit Dienstleistungen stark ausgebaut. In ähnlicher Weise ist die zukünftige Rolle der stationären Einrichtungen in der Stadt Zürich zu interpretieren. Mit dem Modell des Areal-Baukastens der Altersstrategie 2035 wird ein durchlässiges quartierorientiertes Netz städtischer Alters- und Pfegezentren, Alterswohnungen und Pfegedienste angestrebt. Im Vergleich zur Stadt Luzern werden die stationären Einrichtungen noch stärker dezentralisiert und je nach Quartier verschiedenen Aufgaben zugewiesen. In den Altersstrategien der genannten Städte geht es weniger um die Frage, ob stationäre Strukturen zukünftig bestehen bleiben, sondern vielmehr darum, wie stationäre Einrichtungen künftig ausgestaltet werden müssen, um der alterspolitischen Agenda zu entsprechen.
Wichtig: Ausdifferenzierung der Wohnangebote
In allen vier Städten liegt die Zukunft stationärer Einrichtungen in einer Ausdiferenzierung ihrer Wohnangebote. Gefragt sind (de-)zentrale, alternative Wohnformen, so zum Beispiel betreute Wohnungen, Pfegewohnungen für Ehepaare oder Wohngruppen für ältere Menschen mit speziellen Bedürfnissen, welche über das Angebot von Mehrbett-/Einzelzimmern in einer Pfegeabteilung hinausgehen. Mit den erweiterten Wohnangeboten zeichnet sich ein Paradigmenwechsel im Selbstverständnis der Einrichtungen ab. Neu steht nicht mehr die Versorgungstätigkeit im Vordergrund, sondern es sind Fragen rund um die Wohnlichkeit im Mittelpunkt bei der Ausgestaltung einer Einrichtung. Die alterspolitische Ausrichtung der Städte legt einen starken Fokus auf sozialraumorientierte Ansätze in der Gestaltung der Altersarbeit und Gesundheitsversorgung. Der stärkere Quartierbezug bedeutet eine stärkere Anpassung der Einrichtung an die Bedürfnisse der älteren Quartierbevölkerung und an bestehende Unterstützungsstrukturen. Damit gehen auch eine Öffnung der Institution und deren Angebote gegenüber der Quartierbevölkerung im Allgemeinen einher. Zum Beispiel, indem Räumlichkeiten der Einrichtung für andere Gruppen zugänglich sind, etwa das Restaurant, ein Trainingscenter oder eine Kindertagesstätte. Gefragt ist auch die Entwicklung von Angeboten, die über die Bewohnenden hinausgehen, so zum Beispiel eine Gesundheits- und Wohnberatung für ältere Menschen, die noch in Privathaushalten leben. In allen vier Städten werden die stationären Einrichtungen als Teilbereich eines integrierten Versorgungsmodells mitgedacht. Der Faktor Durchlässigkeit spielt dabei eine wichtige Rolle. Zum Beispiel sind Systemgrenzen zwischen den Versorgungsstrukturen abzubauen, damit Übergänge der Wohnsituation und Gesundheitsversorgung für die Betrofenen erleichtert werden können. Unter anderem wird in den städtischen Altersstrategien davon ausgegangen, dass temporäre Aufenthalte in stationären Einrichtungen mittelfristig zunehmen werden. Durchlässigkeit als Faktor gilt aber auch für die Alltagsgestaltung der Bewohnenden hinsichtlich der Förderung der Selbstbestimmung und sozialer Teilhabe. Entsprechend sind Strukturen erforderlich, welche die Beziehungspfege und soziale Kontakte ermöglichen.
«Neu stehen bei der Ausgestgaltung einer Einrichtung nicht mehr die Versorgungstätigkeit im Vordergrund, sondern Fragen rund um die Wohnlichkeit»
Zugänglichkeit für alle älteren Menschen sicherstellen
Die Heterogenität der älteren Bevölkerung erfordert von den Einrichtungen einen stärkeren Fokus auf die individuellen Bedürfnissen der Zielgruppe. Der personenzentrierte Ansatz erstreckt sich in den alterspolitischen Ausrichtungen über die stationären Angebote und Leistungserbringung hinaus. Um den Versorgungsauftrag für die gesamte ältere Bevölkerung wahrnehmen zu können, ist die Zugänglichkeit für alle Menschen, unabhängig von ihren fnanziellen, kulturellen, sozialen und körperlichen Ressourcen, zu gewährleisten. In verschiedenen Städten sind diesbezüglich Bestrebungen und Massnahmen zu erkennen, beispielsweise die geplante Einführung eines Finanzierungssystems für die Betreuung im Alter oder das Gutscheinsystem für selbstbestimmtes Wohnen in der Stadt Luzern. Stationäre Langzeitpfegeeinrichtungen werden weiterhin einen wichtigen Teil in der Betreuung und Pfege älterer Menschen einnehmen. Ungeachtet dessen, dass sich die alterspolitische Ausrichtung der Städte vermehrt um alternative Wohnformen bemühen wird, gehören stationäre Einrichtungen zum Modell der integrierten Gesundheitsversorgung. Welche Aufgaben sie darin erfüllen sollen, ist abhängig von der alters- und gesundheitspolitischen Ausgestaltung der einzelnen Städte und von den kantonalen Bestimmungen. Allerdings lassen sich vier Faktoren skizzieren, welche den Einrichtungen helfen, den älteren Menschen ein langes, selbstbestimmtes Leben im vertrauten Wohnumfeld zu ermöglichen. Neben einer Ausdiferenzierung der Wohnangebote wird die Quartierorientierung der stationären Langzeitversorgung an Bedeutung gewinnen. Damit gehen auch eine Öffnung der Einrichtung ins Quartier und die Vernetzung mit dem Sozialraum einher, welche wiederum neue Anforderungen an die Einrichtungen und Mitarbeitenden stellen. Neben Gesundheitsberufen werden Sozialberufe in diesem Handlungsfeld an Bedeutung gewinnen und damit auch die interprofessionelle Zusammenarbeit.
* Riccardo Pardini und Kathy Haas sind wissenschaftliche Mitarbeitende am Institut Alter der Berner Fachhochschule. Jonathan Benett ist der Leiter des Instituts.
Quelle: Erstpublikation der Artikel im Blog der Berner Fachhochschule, Departement Alter. Zweitabdruck mit Genehmigung der Autoren: Riccardo Pardini, Kathy Haas, Jonathan Benett.