Nur noch ein Puzzleteil ! Puzzeln macht süchtig - und hat vielfältige Auswirkungen auf das Familiengefüge. Sabine Sommer lebt in Zürich, arbeitet und schreibt nebenbei Geschichten. Mit uns teilt sie ihre Lust am Puzzeln. Vielleicht motiviert Sie das auch?
«Ich habe seit neuestem ein Hobby!». Sollten Sie nun denken, das entspringe einer altersbedingten Orientierungslosigkeit, muss ich Sie leider enttäuschen. Ich hatte mich einzig daran erinnert, wie leidenschaftlich gern ich als Jugendliche riesige Puzzles zusammensetzte. So startete ich ein bescheidenes Revival eines 1000er-Puzzles aus fünf zerstückelten Flamingos. Dieses kleine Werk hatte auf mein Leben einen Einfluss, den ich nicht erwartet hatte.
In meiner Mutterrolle
Vor der geschlossenen Tür meiner Puzzle-Idylle gings gerade hoch her. «Mama! Der hat meinen Turnsack versteckt!» «Stimmt gar nicht, du Eierkopf!» Und zwischen weiteren Rufen nach mütterlicher Instanz mischte sich ein männliches «Du-u, wo ist das neue Abwaschmittel?». Mein Hirn gab allen Sprunggelenken das Kommando, aufzustehen und meine Familie aus ihren widrigen Umständen zu befreien. Aber die Gelenke gehorchten mir einfach nicht. Zu dominierend schien der Farbverlauf von Blassrosa zu Pink, der das Farbareal meines Gehirns aktiviert hatte. Und erst als Rosa-Pink als Flamingoflügel sichtbar war, reagierten meine Gelenke. Doch, Moment! Es ist ja plötzlich ganz still! Alle scheinen ihre Probleme ohne mich gelöst zu haben. Danke, Flamingos.
Mit dem Mann
«Schahatz, wir müssen reden!» Fällt dieser Satz beim Paarabend im Restaurant, ist die Stimmung schnell mal steifer als die gestärkten Servietten auf dem Tisch. Als sich mein Mann aber kürzlich mit mir über das Puzzle beugte, kam mir jener Satz über die Lippe, der jeden Seminarleiter für gewaltfreie Kommunikation erschaudern liesse: «Weisst du, was mich an dir so richtig nervt?» Da beide Parteien gerade mit einer höheren Mission als der Besänftigung des Egos beschäftigt waren (überlegen Sie bitte mal, wie sich ein Flamingo mit zerstückeltem Kopf fühlen muss!), löste das bei ihm schlicht ein neutrales «Was denn?» aus. «Dass du den Dreck in der Küche immer in die Ecke wischt und ihn dort liegen lässt. Kannst du das bitte ändern?» Nun war es nicht das erste Mal, dass diese kreative Wischtechnik zum Thema zwischen uns wurde. Doch diesmal sagte der Mann schlicht «Ok!». Und warum? Weil er zeitgleich ein Erfolgserlebnis hatte: Er hatte nämlich gerade einen Flamingokopf komplementiert!
Mit den Kindern
Mit Mama Vokabeln zu lernen, erscheint auf der Beliebtheitsskala meiner Kinder noch hinter dem Säubern des Katzenklos. Als sich die Tochter aber kürzlich zu mir gesellte, um zu puzzeln, fand sie mein gleichzeitiges Abfragen ihrer Fremdsprache so cool, dass sie die englischen Wörter schneller fand als ein Eichhörnchen die versteckten Nüsse. Da schwor ich mir: Nie mehr setze ich mich freiwillig in die Vokabelhölle, ohne dass ein Puzzle zwischen uns liegt.
Mit der Freundin
Als sie zu Besuch kam, war ich gerade – na ja, sie ahnen es. «Ich bin gleich bei dir, nur noch ein Teilchen!», murmelte ich. Doch als ich zu ihr aufschaute, entdeckte ich in ihrem Gesicht keine Ungeduld, sondern einen entrückten Blick auf meine hilfsbedürftigen Tierchen. «Ich lieeebe puzzeln!», stammelte sie. Grinsend rückte ich das Werk in unsere Mitte und wir verbrachten den Abend plaudernd über der Instandsetzung dünner Vogelbeinchen. Wir vergassen sogar, den Prosecco aus dem Kühlschrank zu holen. Merke: Es gibt Süchte, die zwar äusserst bewusstseinserweiternd sind, aber null Kalorien enthalten.
Nun – wäre ich CEO einer Krankenkasse, bekämen all jene Familien Rabatt, die stets ein Puzzle-in-Progress auf dem Tisch liegen haben. Ich bin sicher, dass sich das kostensenkend auf unsere Prämien auswirken würde, weil dadurch diverse Psychotherapien, Nachhilfestunden, Sucht- und Eheberatungen hinfällig wären! Allerdings fürchte ich, dass stattdessen die Physiotherapiekosten
explodieren könnten. Denn verbringe ich mein Leben weiterhin mit gekrümmtem Hals über kaputten Tierchen, werde ich meinen Flamingos bald erschreckend ähnlich sehen. Darum höre ich aus gesundheitlichen Gründen bald auf damit. Nur noch ein einziges, klitzekleines Teilchen…
Die Veröffentlich dieses Artikels basiert mit freundlicher Genehmigung und Unterstützung des Schweizerischen Verbandes für Spiel und Kommunikation. Zweitverwendung aus dem Magazin Spiel-Info 3-2023, Text Sabine Sommer. Bild SVSK zVg. Originaltext im Mamablog des «Tages-Anzeigers» erschienen.