Estelle Floret moderiert Erzählcafés an verschiedenen Orten, für verschiedene Zielgruppen. So zum Beispiel für betagte Menschen im Pflegeheim. Eine prägende zwischenmenschliche Erfahrung, die den Teilnehmenden die Möglichkeit bietet, über ihre Lebensgeschichte nachzudenken sowie ihre eigenen Ressourcen, die Beziehungen zueinander und ihre persönliche Identität zu stärken. Quartierplus veröffentlicht diesen umfassenden Artikel mit Genehmigung im Zweitabdruck.
Eines der ersten Erzählcafés für ältere Menschen, das ich moderieren durfte, fand im Pflegeheim Les Pervenches in Carouge im Kanton Genf statt. Anfang Nachmittag trafen die ersten Teilnehmenden nach und nach gemütlich ein und setzten sich an den grossen Tisch im Aktivierungsraum. Über 20 Personen waren der Einladung gefolgt – weit mehr, als sich Estelle Floret, Leiterin der Aktivierung, erhofft hatte. Noch bevor alle ihren Platz gefunden hatten und ich erklären konnte, was ein Erzählcafé ist und wie es abläuft, fragte mich ein Bewohner: «Was erzählen Sie uns denn heute?» Diese Frage wird mir regelmässig gestellt, wenn ich zum ersten Mal ein Erzählcafé in einem Pflegeheim durchführe. Jedes Mal antworte ich mit einem feinen Lächeln: «Nicht ich, sondern Sie werden erzählen!» Denn diese Gesprächskreise haben den Anspruch, einen wohlwollenden und respektvollen Raum zu schaffen, wo Menschen ihre Geschichte erzählen können und vor allem Gehör finden. Das Erzählcafé in Carouge fand am 14. Juli statt, kurz vor dem 1. August also. Somit lag das Thema des Tages auf der Hand: der Nationalfeiertag. Zu diesem Anlass und um das Eis zu brechen, zeigte ich Bilder mit Bezug zum Nationalfeiertag verschiedener Länder, aus denen die anwesenden Bewohner:innen mehrheitlich stammten. Nachdem sich alle nacheinander vorgestellt und so ein erstes Mal das Wort ergriffen hatten, begann ich, die vorbereiteten Fragen zu stellen. Dabei folgte ich einem chronologischen Ablauf: von der Vergangenheit über die Gegenwart bis zur Zukunft. Wie war es bei Ihnen als Kind? Wie haben Sie den Nationalfeiertag erlebt? Welche Bilder bleiben Ihnen in Erinnerung? Wie ist es heute? Was möchten Sie weitergeben? Zunächst etwas schüchtern, dann immer selbstsicherer und energischer erzählten die Bewohner:innen von ihren Kindheitserinnerungen, von Traditionen, Feuerfreuden, Lampions, kulinarischen Spezialitäten. Manchmal waren sie erstaunt, gleiche Dinge erlebt zu haben, so zum Beispiel, wenn die «kleinen» Geschichten in einen grösseren historischen Kontext gestellt wurden. Gemeinsam lachten sie über Anekdoten, liessen Emotionen aufheben und liessen auch Tränen ihren Lauf, wenn es um schmerzhafte Erinnerungen ging.
Gegenseitiges Zuhören und Erzählen
Estelle Floret ist von der positiven Wirkung der Erzählcafés überzeugt: «Das ist ein einzigartiger Raum für gegenseitiges Zuhören und Erzählen auf Augenhöhe», fasst sie zusammen. Sie war überrascht, dass sich die Teilnehmenden nicht unterbrachen, und erstaunt, als eine desorientierte und sonst nicht sehr gesprächige Bewohnerin ein Erlebnis genau und zusammenhängend wiedergab. In einem Pflegeheim begegnen sich die Bewohnerinnen und Bewohner jeden Tag. Das bedeute aber nicht zwingend, dass sie sich auch kennen, ausser vielleicht die Tischnachbarinnen und -nachbarn, so die Aktivierungsfachfrau. Die Äusserungen ihrer Kolleginnen aus anderen Heimen gehen in die gleiche Richtung: «Anders als sonst haben sie einander zugehört, ohne sich ins Wort zu fallen», berichtet eine von ihnen. «Sie haben viel erzählt, was nicht immer der Fall ist», ergänzt eine weitere Kollegin. «Das Gefühl, gemeinsam etwas Besonderes erlebt zu haben, hat sie einander nähergebracht», freut sich eine dritte Fachperson. So ist zum Beispiel zwischen zwei Bewohnerinnen eine neue Freundschaft entstanden. Sie haben entdeckt, dass die eine im Dorf ihrer Schwiegerfamilie geheiratet hatte, einemabgelegenen Ort im Kanton Luzern, genau dort, wo die andere geboren wurde. Seither grüssen sie sich und trinken gemeinsam Kaffee. Erzählcafés sind Begegnungsräume, die für alle zugänglich sind und wo die Teilnehmenden von ihrem Leben, ihren Erfahrungen und Erinnerungen erzählen. Ausgangspunkt bildet dabei ein vordefiniertes Tema von allgemeinem Interesse. Reisen, das Zuhause, die Nachbar:innen und das Telefon sind nur einige Beispiele. Erzählcafés umfassen zwei Teile: das Erzählen mit einer Dauer von 45 bis 60 Minuten, und das anschliessende Kaffeetrinken in gemütlicher und ungezwungener Atmosphäre mit einem Snack und Raum für weiterführende Gespräche im kleineren Kreis.
Ein geschützter Rahmen
Die Aufgabe der Moderatorinnen und Moderatoren besteht darin, einen vertrauensvollen und respektvollen Rahmen zu schaffen, das Gespräch zu begleiten und zu steuern. Ausserdem achten sie darauf, dass alle Teilnehmenden zu Wort kommen, wenn sie dies wünschen, und sprechen ihnen bei sensiblen oder emotionalen Reaktionen auf die Erzählungen tröstend zu. Erzählcafés sind keine Diskussionen. Es wird weder beurteilt, noch kommentiert oder unterbrochen. Erzählen ist freiwillig, Zuhören aber Pflicht. Das sind die vorrangigen Regeln eines Erzählcafés. Sie tragen zur Schaffung eines geschützten und respektvollen Rahmens bei. Erzählcafés erfüllen keinen therapeutischen Zweck, auch wenn ihre Wirkung durchaus in diese Richtung gehen kann. Das Erzählen der Lebensgeschichte hat eine verändernde Kraft. Dieser Rückblick bietet die Möglichkeit, die Identität zu stärken, dem Erlebten Sinn zu geben, sich mit seiner Biografie auszusöhnen. Lebensgeschichten finden Resonanz und verstärken das Gefühl von Zugehörigkeit. «Über die individuelle Lebensgeschichte hinaus kommen dabei die politischen, sozialen, religiösen und kulturellen Bedingungen in der Zeitgeschichte zum Vorschein. Dabei können die Teilnehmenden durch den Rückblick im Kontext der Gruppe Gemeinsamkeiten und Unterschiede entdecken sowie individuelle Erfahrungen besser verstehen, einordnen und neu bewerten», schreibt Johanna Kohn, Professorin an der Hochschule für Soziale Arbeit der Fachhochschule Nordwestschweiz, in einem Artikel von 2020 mit dem Titel «Wir sind, was wir erzählen».
Erzählcafés haben ihren Ursprung in Berlin
Ihren Anfang nahmen die als soziokulturelle Interventionen geltenden Erzählcafés gegen Ende der 1980er-Jahre in Berlin – genauer gesagt in Wedding, einem Stadtbezirk, der damals von der berühmten Berliner Mauer durchtrennt war und sich durch eine manchmal explosive soziale Durchmischung auszeichnete, erzählt Johanna Kohn. In Berlin wie auch in Wien entstanden immer mehr solche Gesprächskreise. Sie erlaubten der Bevölkerung, über Erlebtes zu sprechen, persönliche Realitäten zu teilen und die Vergangenheit zu verarbeiten. Während Erzählcafés heute vor allem den Anspruch haben, den gesellschaftlichen Zusammenhalt und die Akzeptanz von Diversität zu fördern, war das Anfang der 2000er-Jahre in der Schweiz entwickelte Konzept zunächst für ältere Menschen gedacht. «Biographiearbeit ist eine Hauptaufgabe im Alter. Die Fragen, wer man denn geworden ist, welche Lebensprojekte abgeschlossen werden konnten und welche nicht, wo man erfolgreich, schuldig, klug, mutig oder Opfer war und was man mit der verbleibenden Lebenszeit noch tun möchte, sind existenziell – besonders in Umbruchszeiten», betont Johanna Kohn. Die Professorin, die eine Weiterbildung in der Moderation von Erzählcafés anbietet, gehört auch zu den Ideengeberinnen der Erzählcafés in der Schweiz und des Netzwerks Erzählcafé. «In diesem Prozess der Wiederaneignung ihres Lebens wollen betagte Menschen als Autoren ihrer Lebensgeschichte betrachtet und behandelt werden», so Johanna Kohn weiter.
Gut für die Gesundheit
Laut einer Gruppe deutscher Forscherinnen in psychosozialer Medizin und Psychotherapie fördert biografisches Erzählen die Aufrechterhaltung der individuellen Identität und die soziale Teilhabe. Im Wesentlichen zum gleichen Schluss kommt eine von der Gesundheitsförderung Schweiz beauftragte Evaluation. In ihrem Bericht vom Dezember 2022 schreiben die Autorinnen und Autoren, «dass die Teilnahme an einem Erzählcafé einen positiven Einfluss auf die psychische Gesundheit von (älteren) Menschen hat». Ausserdem betonen sie: «Diese Art der strukturierten Auseinandersetzung mit der eigenen Biografie kann Aspekte wie Lebenszufriedenheit, Selbstwert, Selbstwirksamkeit und soziale Zugehörigkeit positiv beeinflussen». Somit ist die Methode Erzählcafé für die Biographiearbeit mit älteren Menschen besonders gut geeignet.
Erstpublikation erschienen im Magazin ARTISET 03 I 2024, S.6-7. Autorin: Anne-Marie Nicole. Foto: Symbolbild. Die Zweitverwendung erfolgt mit freundlicher Genehmigung der Chefredaktorin des Magazin ARTISET.
Quelle Bild: freepic
Netzwerk Erzählcafé
Der Verein Netzwerk Erzählcafé fördert die Entstehung und Etablierung sorgsam moderierter Erzählcafés in der Schweiz. Erzählcafés sind moderierte Erzählrunden zu einem vorgegebenen Thema, bei denen sich die Teilnehmenden auf Augenhöhe über ihre Lebensgeschichte austauschen. Sie bringen Menschen mit unterschiedlichem Hintergrund und Alter an Orten wie Quartiertreffpunkten, Museen, Bibliotheken oder Cafés zusammen. Das Netzwerk bietet Weiterbildungen, Erzählrunden und Tagungen an. Zudem stellt es eine Agenda, Artikel, Instrumente und eine Liste der Moderatoren und Moderatorinnen zur Verfügung.
Weitere Informationen www.netzwerk-erzaehlcafe.ch